Don’t let fear get in your way
Vanessa Laszlo

Heute habe ich einen neuen Auftrag erhalten. Einen neuen Auftrag zu bekommen ist auch nach 20 Jahren für mich absolut verschleißfrei. Es fühlt sich aufregend und wach an. Genau richtig. Nicht zu viel und nicht zu wenig spannend.

Anders vor 20 Jahren. Damals habe ich den Auftrag angenommen mit einem Gefangenen zu sprechen, der sich bereits einen Ruf erarbeitet hatte: unberechenbar, gewalttätig und gefährlich. Jemand, der leicht ausflippt und auch vor körperlicher Gewalt nicht abgeneigt ist. Deliktbilanz aus der kurzen Inhaftierungszeit: 2 Mitgefangene ins Krankenhaus geprügelt, 1 Gehirnerschütterung, mehrere gebrochene Nasen, Sozialarbeiterin den Konferenztisch aus Zorn in die Magengrube geschoben, und nebenbei einen stetig wachsenden, hohen Sachschaden erzeugt.

Im Nachhinein ist mir schleierhaft, warum ich diesen Auftrag angenommen habe. Fakt ist, ich habe.

Jetzt sitze ich, nicht wie üblich, in einem wohnzimmerähnlichen Aufenthaltsraum, sondern in einer Art Besprechungszimmer, das vermutlich nur deshalb so klein wirkt, weil über und über mit Möbeln vollgestellt. Immerhin eine neue Variante von schwierigen Rahmenbedingungen.

Während der Vollzugsbeamte meinen neuen Gesprächspartner aus seiner Zelle holt, versuche ich eine Schneise durch die Möbel zu bauen und so etwas wie eine räumliche Nische einzurichten. Darin liegt der verzweifelte Versuch, die Atmosphäre etwas kommunikationsfreundlicher zu gestalten, was mir nicht ansatzweise gelingt. Dabei treffe ich eine grundlegende und wie sich heraus stellen wird, folgenschwere Entscheidung.

Meine Angst setzt mich direkt an die Tür. Ein latenter Fluchtreflex ist schon am Start, bevor das Gespräch überhaupt beginnt. Doch eine damals bereits wachsende Superpower in mir korrigiert diese Entscheidung und ich setze mich an den Platz, der am weitesten von der Tür entfernt ist.

Ich entscheide mich für einen gewagten und effektiven Gesprächseinstieg: Ich gehe ALL IN.

„Das hier ist entweder unser einziges oder unser erstes Gespräch. Das hängt jetzt von Ihnen ab. Ehrlich gesagt, habe ich bisher nur Schlechtes über Sie gehört. Das macht mir Angst. Sie machen mir Angst. Als erstes, bevor wir überhaupt über irgendetwas reden, will ich von Ihnen wissen: Wie garantieren Sie für meine Sicherheit während dieses Gesprächs?!“

Der daraufhin hoch erstaunte Gesichtsausdruck meines Gegenübers gibt mir zwar noch keine Sicherheit, aber eine gewisse Zufriedenheit mit meinem ersten move.

Ich lade nach: „Ich kann Ihnen nur bis zur Stirn gucken. Ich weiß nicht, wenn ich etwas sage oder Sie etwas frage, ob das bei Ihnen einen wunden Punkt trifft. Ich kann nicht vorhersehen, ob ich Sie aus Versehen oder Unwissenheit beleidige oder sonst etwas vorfällt, dass Sie ausflippen lässt. Wenn wir miteinander sprechen, möchte ich davon frei sein. Ich will sagen und fragen, was mir wichtig ist, ohne Schaden zu nehmen und ich möchte auch nicht, dass Sie Schaden nehmen.“

Mein Gegenüber sammelt sich und fragt mich, ob ich sie noch alle habe. Kein Problem, Madafakka. Unterschätzt zu werden, ist in schwierigen Situationen nicht das Schlechteste. 

Ich wiederhole mein Angebot inklusive meiner Bedingung und ernte ein anerkennendes Grinsen verbunden mit einer Frage. „Was soll ich machen, wenn ich ausflippe?!“

Meine Angst setzt sich zur Seite und ich weiß, dass ich die Gesprächsführung habe: „Dann schlage ich vor, Sie rennen raus und zertreten draußen eine Tür oder welcher Gegenstand sich auch immer dafür eignet. O.K. ?“ – „O.K.“

Alles klar. Wir haben einen wasserfesten Deal. Das glaubst du nicht. Ich schon. Ich weiß es nicht, aber ich glaube es und in meinem bisherigen Leben hat es sich fast immer gelohnt, mit positiven Unterstellungen zu arbeiten.

Eine positive Unterstellung ist zum einen eine Haltung, die ich einnehmen kann. Und zum anderen liegt darin ein nahezu unwiderstehliches Beziehungsangebot. Selbst, wenn jemand bis dato beschlossen hatte, mich abzufucken, schenke ich ihm die Sicht auf meine ideale Vorstellung von ihm. Eine Mindestutopie, ohne die ich mit Niemandem in eine gemeinsame Arbeit gehe! Das erzeugt eine Hinzu-Motivation, ein Verankern auf einem hohen Niveau. Es ist ein qualitativ hochwertiges Beziehungsangebot! Und das ist die Hälfte vom Ganzen!

Die nachfolgende Entwarnung geht an alle, die mich kennen und wissen, dass das ein Thema ist, bei dem ich normalerweise weit aushole und tief grabe – keine Sorge, an dieser Stelle halte ich es kurz und werde zur Bestätigung mal redundant: Ein qualitativ hochwertiges Beziehungsangebot ist die Hälfte vom Ganzen!

Nach 3 Jahren wird mein Gesprächspartner in einen offenen Vollzug verlegt. Nach 3 Jahren wöchentlichem Gespräch nehmen wir Abschied. Standesgemäß mit einem trashigen Essen de Luxe. Ich bekomme eine Paper-Dreh-Maschine (damals habe ich noch geraucht, als gäbe es kein Morgen), ein Bild zur Erinnerung und eine Anerkennung, über die ich mich heute noch freue:

“Die meisten Psychos hier waren echt nett. Aber Sie, Sie sind krass. Sie sind echt mit allen Wassern gewaschen.“

Wir müssen beide lachen und ich sage, dass ich mich in unseren Gesprächen immer sicher gefühlt habe. Und dann bekomme ich noch den goldenen Code. Retrospektiv für diese langjährige gelungene Beziehung:

„Ich habe gleich gewusst, dass Sie das meinen, was Sie sagen, weil Sie mir Platz gelassen haben.“