Geradeaus!
Vanessa Laszlo

 

Bordrestaurant ICE – ich liebe diesen Ort. Warum? Nein, nicht wegen des guten Essens. 🙂 Sondern weil ich hier schon so viele tolle Leute kennen gelernt habe. 

In den Anfängen meines Businesses bin ich oft gereist und habe dabei viel Zeit im Bordrestaurant verbracht, weil ich schnell gemerkt habe, dass dies ein toller Ort für Netzwerken und Akquise ist. Und wenn ich heute noch manchmal mit dem Zug verreise, setze ich mich gerne erneut in diesen Wagen.

Mir gegenüber sitzt eine junge Frau, deren Style mir sofort positiv auffällt. Ein cooler Businesslook mit ganz eigener Note. I love it!!

Wir lächeln uns, an als sich unsere Blicke treffen und stellen dabei fest, dass wir das gleiche Getränk bestellt haben: Kaffee schwarz mit einem Extra Schuss heißem Wasser.

Unser Gespräch wandert schnell von Ess- und Trinkgewohnheiten zu dem, was jede von uns macht. Sie arbeitet als Vorstandsassistentin – das ergibt viele thematische Anknüpfungspunkte, so dass unsere gemeinsame Wegstrecke wie im Flug vergeht. 

Einige Wochen später bekomme ich einen Anruf: Der Finanzvorstand eines Konzerns möchte mit mir wegen einer persönlichen Begleitung in einer heiklen Business-Angelegenheit sprechen. Aufgrund der Empfehlung seiner Assistentin: „Marlies hat gesagt, die musst du anrufen, die ist ganz anders.“ (Danke für die Blumen!).

Unser Kennenlerngespräch schafft Vertrauen und wir entscheiden uns dafür, zusammen zu arbeiten.

Und Marlies ruft mich auch an: „Hey Vanessa, ich habe dir doch im Zug von meinem Chef erzählt. Ein sehr erfolgreicher, sehr intelligenter und sehr schwieriger Mensch. Ich mag ihn – damit bin ich bei uns aber auch schon die Einzige. Wenn er so weiter macht und es sich mit allen wichtigen Bündnispartnern vergrault, kickt er sich selbst von seinem Sessel. Ich habe ihm gesagt, er soll sich bei dir melden. Ich bin mir sicher, du kommst gut mit ihm klar und kannst ihm helfen.“

„Hat er schon, liebe Marlies, danke für dein Vertrauen. Wir sind schon verabredet. Bald wirst du’s merken…“ 🙂

Einige Wochen treffen wir uns. Mir gegenüber sitzt ein Mann, der gewohnt ist zu reden. Auch über sich. Der allerdings (noch) nicht ahnt, warum alles immer anstrengend, konfliktär und zäh ist. Der bisher die Gründe dafür nur in seinem Umfeld gesucht hat. Im Außen. Der seinen eigenen Beitrag zu einer komplex schwierigen Situation noch nicht realisiert hat. 

Dabei fällt immer wieder eine Schlüsselvariable zum Selbstverständnis dieses Menschen: 

„Ich bin immer geradeaus. Ich sage unverblümt, was ich denke. Wenn die mich nicht mehr wollen, dann sollen sie mich eben rausschmeißen. Dann finde ich einen anderen Job.“

Der Gesichtsausdruck wird trotzig. Ich kann fühlen, wie anstrengend das alles sein muss. 

Gewohnt überdurchschnittlich zu sein und alles im Griff zu haben, wird die offensichtliche kommunikative Schwäche nicht als solche wahrgenommen und angegangen, sondern als Haltung stilisiert. 

Was dabei heraus kommt, ist alles andere als souverän und gewinnend, sondern wirkt relativ zwanghaft. 

Wenn dir nur ein sozialer Algorithmus statt einer Auswahl angemessener Interaktionsstrategien zur Verfügung steht, um dich in einem hoch mikropolitischen Unternehmensumfeld zu bewegen, macht dich das unfrei.

Diese Unfreiheit wird als Gegenwind deutlich erlebt, jedoch nicht mit eigenen Verhaltensweisen in Verbindung gebracht. Nein, die anderen sind…. 

Dabei wird diese Realitätsgestaltung stark beschützt, auch wenn sie nichts nutzt, sondern im Gegenteil, verhindert: 

dass er sich sicher,

gewertschätzt, 

in Kontakt fühlt und 

in einen Flow-Zustand kommt. 

Stattdessen ist der Alltag geprägt von misslingenden Begegnungen. 

Was wäre das alles so schön, ohne Menschen. 

Niemand hat mehr Nehmerqualitäten.

dabei ist er berechenbar geradeaus und gradlinig. Sagt immer, was er denkt. 

Warum wird das nicht gewertschätzt, sondern kritisiert. D

Die Menschen in seinem Businessumfeld haben entweder Angst vor ihm oder belächeln ihn, für die fehlende Diplomatie.

Nach zwei Sitzungen, beschließe ich, dass es Zeit ist, für eine tiefere Intervention.  

Ich schlage vor, die nächste Coachingsession in Frankfurt stattfinden zu lassen. Wir verabreden uns am Osthafen. Ich erfrage im Vorfeld seine Schuhgröße, was mir großes Erstaunen und eine Antwort beschert. 

Ich kaufe Gummistiefel in der notwendigen Größe, meine sind ein vielbenutztes grünes Exemplar und packe einen Rucksack mit Proviant.

Das Erstaunen meines Gegenübers vergrößert sich noch mehr als ich ihm lächelnd sein Paar Gummistiefel entgegenhalte: 

„Was soll das?!“ 

„Die werden Sie brauchen!“ 

„Wozu?“ 

„Vertrauen Sie mir, Sie werden Sie brauchen!“ 

Die dunkelbraunen Herrenhalbschuhe werden im Auto verstaut und die Gummistiefel anprobiert. Von der Größe her passen sie, dennoch wird deutlich, dass ihr Träger ansonsten niemals solches Schuhwerk trägt. Der Kontrast zum sonstigen Look verunsichert sichtbar, aber da muss er jetzt durch.

„Was machen wir jetzt?!!“

„Wir laufen geradeaus! 

„Wohin denn?“

„GERADEAUS!“

„Wie? Einfach nur geradeaus?“

„Ganz genau. Einfach nur geradeaus. Das ist die einzige Regel, die ich uns hiermit auferlege. Los geht’s!“

Kopfschüttelnd setzt sich mein Klient in Bewegung. Es dauert ein bißchen, bis wir uns eingegrooved haben. Unser Gespräch erfährt immer wieder zwangsläufige Pausen, da wir unter keinen Umständen von dem einzigen Maßstab abweichen, den ich uns auferlegt habe: Wir gehen immer und ausschließlich geradeaus. 

Dabei wird relativ schell relativ deutlich, wie unsinnig es ist, immer nur geradeaus zu laufen.

Wir laufen und laufen und laufen… für eineinhalb Stunden 

immer geradeaus. 

Geradeaus über gefährliche mehrspurige Straßen ohne Fußgängerübergang…

geradeaus durch Vorgärten, Höfe und Hintergärten…

geradeaus über was-weiß-ich-wie-viele matschige Rasenflächen…

Sprenkleranlagen…

und Spielplätze…

über frisch ausgeschütteten Beton…

und über Bahnschienen…

dabei werden wir mehrfach angeschrieen und ausgehupt, sowie mit Blicken bedacht, die nicht besonders schmeichelhaft sind…

… bis wir – schicksalhaft (ehrlich, ich hätte das nicht planen können, aber es war perfekt!) – am Ende einer Sackgasse gezwungenermaßen stehen bleiben!

Wir setzen uns gemeinsam auf eine Mauer. 

Nussschokolade und Rosinenbrötchen werden ausgepackt und verzehrt. Heißen Tee trinkend, sitzen wir schweigend nebeneinander. Ich lasse meinem Gegenüber Zeit, diese Selbsterfahrung zu verstoffwechseln.

Nach einer Weile schauen wir uns direkt in die Augen.

Mein Gegenüber lächelt mich wissend an und sagt: Ok. Ich habe es verstanden!

Damit ist Zeit für einen abschließenden gemeinsamen Gin Tonic. Zur Feier dieser grandiosen Selbsterkenntnis und Musterunterbrechung (Ja, das ist auch mit fortgeschrittenem Alter möglich). Wir bleiben noch so lange gemeinsam auf der Mauer sitzen, bis es dafür definitiv zu kalt wird.

Zum Abschied schütteln wir uns lange und wortlos die Hände. Bis in zwei Wochen.

Die darauf folgenden Sessions in gewohntem Umfeld, profitieren von der gemeinsam erlaufenen Qualität: Ab jetzt können wir tabufrei, offen und schnörkellos über seine Baustelle sprechen: Wer zwanghaft geradeaus läuft, kommt nicht schneller ans Ziel, sondern begibt sich in Gefahren. 

Eine Verknüpfung und Versöhnung findet statt. Es wird deutlich, dass der strikte Verhaltensstil eine Erfolgsstrategie aus längst vergangenen Kindertagen darstellt, damals in einem Umfeld aus dem er sich durch burschikose Direktheit befreien konnte. Seine Selbsterzählungen gewinnen an Tiefe. Viel schauen wir gemeinsam auf die individuell erlebte Familiengeschichte und welche Auswirkungen dies erzeugt hat im Zusammenspiel mit seiner eigenen Handlungslogik. 

Im Nachhall unseres initialen Prozesses, bekomme ich noch mehrere Anrufe. 

Nicht nur von Marlies, die mega glücklich ist, dass ihr Chef nicht täglich ein bürgerkriegsänhliches Gebiet vergrößert und warriormäßig zur Arbeit erscheint, auch von seiner Ehefrau, von seiner Tochter und von zwei seiner direct leads, die die neu entstandene Qualität des Miteinanders im Leadership – Team im Allgemeinen und zu ihrem Chef im Besonderen, nicht fassen können. 

Persönlich lerne ich all diese Menschen aus seinem Umfeld übrigens zu seinem 55. Geburtstag kennen: Bei einem Candle-Light-Dinner während einer gemeinsamen Fahrt in einem historischen Zug.