Ich habe eine Affäre – Teil 1
Vanessa Laszlo

„Ich habe eine Affäre“ sagt der Mann, der mir gegenüber sitzt und sieht mir ins Gesicht. Ein neuer Kunde, dem ich gerade zum 1. Mal begegne. Auch in meinem Längsschnitt von Erstkontakten ist das ein ungewöhnlicher Start. Wir begegnen uns vor dem Hintergrund eines Businesskontextes, in dem ein persönliches Führungscoaching stattfinden soll.
„Da sagen Sie jetzt mal was dazu. Ich bin gespannt. Sie sind mir empfohlen worden. Ihnen könne man alles sagen, hat mein Kollege gesagt.“

Meine berufliche Rolle ermöglicht es mir, sehr schnell, ohne lästige Small-Talk-Schleifen, in relevantes Gebiet zu dringen. Das hat mich schon immer interessiert: wenn es echt wird, persönlich und wichtig. Deshalb mache ich das, was ich mache.
Ich bedanke mich für diesen interessanten Auftakt unserer Gespräche und frage mein Gegenüber, was diese Information bezwecken soll. Geht es um einen moralischen Test, um meine street credibility oder um seine gedankliche und gefühlte Welt. Ich erläutere ebenfalls, dass meine Präferenz ganz klar ihn im Themenfokus sieht und er mir sagen soll, was er von mir braucht, um sich weiter vorzutrauen, um eine Zuversicht in mich als Gegenüber zu gewinnen . Das reicht ihm schon, mehr braucht er nicht, wir können loslegen.

Ich erfahre, dass mal wieder jemand vor mir sitzt, der seine Hausaufgaben existentieller Natur erledigt hat: Bildungsbürgerlicher Hintergrund, Internationaler Lebenslauf, Doppelstudium, Promotion, erste Berufserfahrungen in großen Unternehmensberatungen, dann die Seiten gewechselt, in verschiedenen Industrien Führungskarriere gemacht, seit einigen Jahren Geschäftsführer. Intelligent, gebildet, hoher Status, very busy, viel Verantwortung, viele Entscheidungen, wenig Schlaf, wenig Ausgleich, immer wieder Kämpfe mit sich selbst, in denen es – in meinen Worten gesprochen – um Regulation geht: Zwischen alles öde, langweilig bis hin zu alles zu viel. Verschiedene Lebensabschnittspartnerschaften, einige mit Ehe-Status, andere nicht. Serielle Monogamie – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Einen Sohn aus einer frühen Beziehung, der inzwischen erwachsen ist und studiert und einen Sohn aus der jetzigen Beziehung, der 3 Jahre alt ist und gerade im Kindergarten eingewöhnt wird. Die jetzige Beziehung existiert seit 5 Jahren. Gerade hat er für sich und seine Familie ein Haus gekauft. Villa an einem großen Fluß.

KEINE FREUDE

Ein mega-erfolgreiches Leben, objektiv gesehen, auch subjektiv gesehen – aber nicht gefühlt. Zum ersten Mal erlebe ich eine nicht kontrollierte emotionale Reaktion: erstaunter Blick, was ich damit meinen würde?!
Ich sage ihm: ich bin beeindruckt über so viel Leistungsbereitschaft, Engagement und Erfolg und gefühlt kommt dabei nichts bei mir an: keine Freude darüber, kein Stolz darauf. Es klingt für mich wie ein elaboriertes Hamsterrad. Das Tempo unseres Gespräches verlangsamt sich und wir gewinnen an Tiefe. Wir reden lange –
• darüber, welche Auswirkungen es hat, Erfolg zahlengebunden zu definieren,
• darüber dass die individuelle Skala nicht geeicht ist, dass sich der Nullpunkt verschiebt
nach einer Zeit der Überinvolviertheit, dann werden leider 60-80 Stunden- Wochen“normal“ und nicht mehr korrekturbedürftig. Unser Gehirn, dieser großartige Prozessor hinter unserer Stirn, korrigiert dann nämlich empirisch basiert = Mensch arbeitet 80 Stunden in der Woche, unsere Prioritätenliste => Arbeit gewinnt an Bedeutung und wird daher weiter nach oben geschoben und weiter geht’s…. Vereinfacht gesagt, dass wird priorisiert, was wir tun – nicht das, was wir denken bzw. sagen.
• darüber sich zwar fast alle Wünsche zu erfüllen, aber seine Bedürfnisse aus den Augen zu verlieren,
• darüber, dass nicht nur das hoch priorisiert wird, was wir tun, sondern auch das an handlungsleitendem Effekt verliert, wofür wir weniger Zeit haben, z.B. Partnerschaft, Kinder, Privates,
• darüber wie verdammt gut es sich anfühlt, etwas anderes zu empfinden, sich explizit beglückt und lebendig zu fühlen und dass dies leichter geht, wenn man sich auf einen neuen Menschen einlässt, als würde man sich neu erfinden – zumindest für eine Weile – und da man sich ja mitnimmt, holen einen zumindest die ureigenen alten Themen immer wieder ein
und noch über einiges mehr, aber davon werde ich ein anderes Mal erzählen.

Der Kaffee ist leer, es ist schon dunkel. Unsere erste Coachingsitzung geht zu Ende. Wir vereinbaren weitere Termine und ich bin dankbar für diesen ersten Schlüssellochblick in ein Leben, das mir bis vor kurzem noch völlig unbekannt war und über eine neue Weggefährtenschaft.